Intersexualität

«Das Mädchen war immer in mir»

Angela Sänger
Angela Sänger wurde 1962 als Junge geboren. Doch sie wollte immer ein Mädchen sein. Heute lebt sie als Frau und weiss, dass Gott sie liebt – unabhängig von ihrem Geschlecht. Sie erzählt Simone Merz von ERF, wie es dazu gekommen ist.

«Es gibt Fotos von meinem Bruder und mir, auf denen wir gleich angezogen sind. Und trotzdem meinten viele, ich sei ein Mädchen», erzählt Angela Sänger. Schon als Kind fühlte sie das Mädchen in sich, wollte so sein wie diese. Doch damals war das kein Thema, es wurde nicht darüber geredet, auch konnte man nichts dazu lesen. Sie war 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter zusammen eine Sendung mit Mary und Gordy anschaute. «Das waren Männer in Frauenkleidern – da traute ich mich endlich, meiner Mutter zu sagen, dass ich so sei wie diese beiden.»

Das stimmte zwar nicht. Doch Angela wollte damit ausdrücken, dass sie lieber als Mädchen leben wollte. Für die Mutter kam das nicht in Frage. Sie wusste nicht und konnte es nicht einordnen, dass bei ihrem Kind genetisch bedingt zwei Chromosomenstränge vorhanden sind. Einer ist klar weiblich, der andere enthält die Chromosomen XXY. Heute schmunzelt Angela als Frau mit langen roten Haaren: «Ich kann also eines streichen – ich nehme das Y.»

Katastrophe Pubertät

«Meine Geschlechtsorgane waren sehr klein, aber während der Pubertät wuchsen mir am ganzen Körper Haare, der Bartwuchs setzte ein», führt Angela aus. Um das zu verstecken trug sie auch im Sommer lange Hosen, ging nicht mehr ins Schwimmbad. Sie fühlte sich weiblich und wurde nun äusserlich immer mehr zum Mann, ohne dass sie etwas hätte unternehmen können. Damit rutschte sie immer mehr in eine Depression. «So wollte ich nicht mehr leben, ich hatte ja keine Existenzberechtigung.» Sie suchte nach einer Brücke, von der sie sich hätte stürzen können. Sie hatte keine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu sprechen, fühlte sich elend.

Begegnung mit Gott

In einer Jugendgruppe der Baptisten hörte sie, dass man eine Beziehung mit Gott pflegen könne. «Denen fragte ich dann Löcher in den Bauch», erinnert sich Angela. Später besuchte sie den Bibelkreis des CVJM und lernte dort Jesus besser kennen. «Am 23. September 1987 übergab ich durch ein Gebet mein Leben Jesus. Alles was mich so verzweifeln liess, meine Depressionen und dass das Mädchen in mir nicht leben darf, brachte ich zu ihm.»

Was danach geschah, kann sie kaum erklären. «Es war, als wenn man ein Glas dreckiges Wasser auskippt: all das Negative war weg.» Später betete sie allein nochmals. Und plötzlich spürte sie die Gegenwart des Heiligen Geistes, wusste ganz sicher: «Jetzt bin ich Gottes Kind. Und Gott nimmt mir das Mädchen in mir nicht weg!» Sie war erfüllt von einer riesigen Freude und spürte Gottes Ja zu sich. Die depressiven Phasen und auch der Suizidwunsch verschwanden.

Unverständnis

Immer wieder versuchte ihr Umfeld, das Mädchen aus ihr auszutreiben. Ihre Mitmenschen verstanden ihre Empfindungen nicht. «Doch Gott war bei mir, er war mein Fluchtort, zu dem ich immer wieder geflüchtet bin», betont Angela. Dies habe ihr sehr geholfen. «In meiner Jugend gab es noch keine Computer», erklärt Angela. Nur in einem Lexikon fand sie den Begriff Transsexualität, doch damals konnte sie nichts damit anfangen. Auch während ihres Medizinstudiums wurde das Thema nur in Lehrbüchern erwähnt, einmal während einer Psychologievorlesung. Darüber diskutiert wurde jedoch nicht. Doch als sie im Zivildienst auf einer onkologischen Frauenstation arbeitete, erfuhr sie von geschlechtsangleichenden Operationen. «Ich war danach ein paar Tage völlig durch den Wind, getraute mich aber nicht, jemanden anzusprechen.»

Behandlung

Der innere Druck wurde immer grösser. Angela Sänger spürte: «So kann und will ich nicht weiterleben.» 2004 sah sie im Fernsehen eine Sendung über transsexuelle Kinder, die hormonell behandelt wurden. Das wurde ihr Wendepunkt: Ein paar Tage später begann sie ebenfalls, Hormone zu nehmen. «Ich hatte diese Verheissung von Gott, dass das Mädchen in mir leben darf.» Damals arbeitete sie auf einer chirurgischen Abteilung und absolvierte gleichzeitig eine Ausbildung für Naturheilverfahren. Nun wollte sie Klarheit schaffen und redete mit ihrem Chef. Für ihn war es kein Problem, dass sie fortan als Frau wahrgenommen werden wollte. «Von da an gabs nur noch die Angela», bestätigt Sänger. «Für mich war das eine Befreiung – endlich durfte ich als Frau leben!»

Klare Entscheidung

Als Chirurgin nahm sie an einer geschlechtsangleichenden Operation teil und konnte so genau mitverfolgen, was da passiert. «Diesen Schritt muss man sich reiflich überlegen – man kann ihn nicht rückgängig machen!», betont Angela. Sie hatte sich genetisch testen lassen und erfahren, dass bei ihr mehr X- als Y-Chromosomen vorhanden sind. Das bestätigte ihren Entschluss, sich selbst operieren zu lassen. «Ich wusste, dass ich bei Gott zuhause bin.» Schon während des Neujahrsgottesdienstes 2003/4 hatte sie von ihm die Zusage bekommen: «Ich habe an dir viel mehr Interesse als an deinem Geschlecht.» Dankbar erinnert sich Angela: «Er sagte zu mir: Ich bin – du darfst sein.»

Intersexualität bedeutet «Zwischengeschlechtlichkeit». Sie hat biologische Ursachen und bezieht sich auf eine anatomische, hormonelle oder genetische Variation, die dazu führt, dass sich eine Person dem männlichen oder weiblichen Geschlecht biologisch nicht eindeutig zuordnen lässt. Es handelt sich um eine natürliche Variation von Geschlechtsmerkmalen. Laut WHO-Schätzung sind etwa 1,7 Prozent der Weltbevölkerung davon betroffen.

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Datum: 27.05.2023
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Livenet

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