Ich war ein Flüchtling…

«Ich hatte ein Leben ganz wie du»

Kinder spielen im «King's Kids Camp» im Libanon
Mit diesen Worten beginnt Sara, 32, aus Syrien normalerweise die Geschichte ihrer Flucht, wenn sie dazu gefragt wird. Zum Abschluss der Serie zum Flüchtlingssonntag 2023 der SEA erzählt sie Livenet, was sie auf ihrer Flucht und danach erlebt hat.

«Ich war an einer Kirchen-Konferenz im Libanon, als mir gesagt wurde, dass zu Hause etwas geschehe. Meine Familie und ich kehrten sofort zurück nach Syrien, wo ein grosses Durcheinander war; es brannte an verschiedenen Orten, zuerst in einer anderen Stadt, dann auch in meiner. Es gab Gerüchte darüber, dass Christen und andere Minderheiten umgebracht würden. Unsere ganze Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt. Wir haben zwar den sogenannten Arabischen Frühling in den anderen Ländern beobachtet, aber nie gedacht, dass so etwas auch bei uns geschehen könnte. Nun mussten wir zuhause bleiben, denn es gab überall Heckenschützen; es war ja nicht ein Feind, der uns von ausserhalb attackierte.»

Sara's Familie reiste trotzdem weiterhin in den Libanon, wo ihre Eltern Missionare gewesen waren und Sara immer wieder an Camps von King's Kids (KKI) mithalf. Sie entschieden sich als Familie, an eine Konferenz zu fahren, um etwas Ruhe zu bekommen und den Krieg für eine kurze Zeit hinter sich zu lassen.

Sara machte noch ihre Examen an der Universität und dann fuhren sie los. Sie dachten damals überhaupt nicht an Flucht. Sara erzählt: «Ich liess sogar meinen Pyjama auf meinem Bett liegen, ich dachte ja, dass wir in ein paar Tagen zurück wären.» Im Libanon angekommen entschieden sich die Eltern aber, nicht mehr zurück zu gehen, vor allem auch um Sara's Brüder davor zu schützen, ins Militär zu müssen. Ausserdem wurde die Situation in Syrien immer schlimmer.

Flüchtling im Libanon

Sara (32) aus Syrien

«Wir planten, im Libanon zu bleiben, wir hatten ja Kontakt mit den Leuten von KKI und so suchten wir einen Ort, wo wir bleiben konnten. Für mich ist die Erinnerung an diese Zeit sehr verschwommen, ich war durcheinander, aber auch aufgeregt, weil ich sehr gerne im Libanon bin. Wir zogen mehrmals um. Ich war gerade 21 geworden und konnte die Uni nicht abschliessen, was für mich schwierig war.»

Sara half in KKI-Camps mit, ihre Eltern suchten sich Arbeit, und die Brüder gingen zur Schule. Es war hart als Syrer im Libanon. Die Flüchtlinge, es waren mittlerweile fast zwei Millionen, waren nicht willkommen und die Libanesen schauten auf die Flüchtlinge herab. Und so war es auch für Sara sehr schwierig, zu sagen, dass sie ein Flüchtling ist. Flüchtlinge, das waren doch Afrikaner oder Afghanen, aber nicht Syrer. Es dauerte zwei bis drei Jahre, bis Sara akzeptieren konnte, dass sie auch ein Flüchtling war.

Sara sagt: «Ich war jung, mein Leben hatte erst gerade begonnen und nun war plötzlich alles anders. Als Familie litten wir unter dem, was die Rebellen in Syrien taten. Diese Rebellen, die im Land geblieben waren, um zu kämpfen, hatten ihre Frauen und Kinder als Flüchtlinge in den Libanon gesandt und ich wollte nichts mit den Leuten zu tun haben, die das Haus meines Grossvaters gestohlen hatten. Nun musste ich auch Kleider tragen, die mir gegeben wurden, ich konnte nicht wählen. Ich rang mit meiner Identität und mit Gott. Aber irgendwie hat Gott mich vorbereitet auf diese Zeit, er hatte mich nämlich gefragt, ob ich ihm auch weiterhin vertrauen würde.»

In einem Lager, dass von KKI organisiert wurde, arbeitete Sara mit Flüchtlingen. Sie sagt: «Es war definitiv nicht meine, sondern Gottes Wahl! Als ich im Camp ankam, öffnete Gott mir die Augen für die Not dieser Leute. Ich begann, die Kinder zu lieben und habe seither nicht mehr aufgehört mit Flüchtlingen zu arbeiten. Ich begann, in der Schule für Flüchtlingskinder von KKI mit zu arbeiten. Obwohl ich Gott immer noch nicht wirklich verstand, war dies eine gesegnete Zeit.»

Und wieder ein Aufbruch…

Leider bekamen Sara und ihre Familie keinen Aufenthaltsstatus für den Libanon, sie waren immer nur für sechs Monate akzeptiert und Saras Vater wurde oft sehr schlecht behandelt. Sie wollten das Land verlassen. Durch das UN Resettlement Programm wurde ihnen zuerst Deutschland vorgeschlagen, wohin aber nur die Mutter mit den Kindern hätte reisen können. Nach einem langen Prozess wurden sie aber abgelehnt. Kurz danach öffnete sich eine Tür, nach Kanada zu reisen und diesmal als ganze Familie.

Es wurde ihnen gesagt, dass sie auf einen Anruf zur Abreise warten sollten. Als der Anruf kam, hatten sie nur zwei Tage Zeit, um sich zu verabschieden. Sara erzählt: «Ich wollte gerade zu einer Neujahrs-Party gehen, als der Anruf kam. Ich konnte mich von keinem meiner Schüler verabschieden und war einmal mehr durcheinander. Ich verstand Gott nicht und fragte: Wieso müssen wir schon wieder aufbrechen? Ich trauerte um mich, mein Land und mein Volk. Ich hänge an meinen kleinen Besitztümern und nun mussten wir wieder alles zurücklassen, dass uns lieb war. Jeder durfte nur einen Koffer mit 22 kg mitnehmen.»

In einem neuen Land

«In Kanada wartete ein Haus auf uns, das mit viel Liebe eingerichtet war und in vielen Details sahen wir Gottes Fürsorge. In der Küche stand ein Glas mit dem Lieblingsbrotaufstrich meines Vaters. Wer ausser unserem Herrn hätte das denn wissen können?!»

Die ersten Jahre in Kanada waren schwierig. Sara weinte jeden Tag, sie fühlte sich wie ein entwurzelter Baum, suchte neue Freunde, fand aber keine. Die Leute in Kanada lebten ein so anderes Leben und konnten Saras Geschichte nicht verstehen; sie fühlte sich unverstanden. Syrien war vor dem Krieg ein sehr entwickeltes Land, in dem man alles bekam und trotzdem war Sara immer wieder mit Fragen konfrontiert wie: Habt ihr bei euch Kühlschränke? Kann man bei euch Ketchup kaufen? Sie hatte dann nicht immer die Geduld, diese Fragen zu beantworten. Sara wurde Kanadische Bürgerin, fühlte sich aber doch immer als Aussenseiterin, irgendwie einer dritten Kultur zugehörig. Sie fühlte sich weder Kanadierin, noch Syrerin, suchte nach ihrer Identität und fragte: «Wieso, Gott?»

Nach zwei Jahren zog Sara nach Vancouver und begann, mit Campus Ministries mit Flüchtlingen zu arbeiten. Hier hatte sie Zimmerkolleginnen und begann langsam wieder ihren Platz zu finden. Sie hatte aber immer noch Mühe, mit Gott über ihr Erleben zu sprechen und fühlte sich auch schuldig, dass alles hatte, was sie brauchte, während ihre Verwandten in Syrien weder Wasser noch Strom hatten. Wieder fragte sie sich: «Wieso ich, wieso geht es mir so gut?»

Asche in Schönheit

Da sie Übersetzerin Arabisch-Englisch studierte hatte, aber leider nie einen Abschluss machen konnte, war Sprache für Sara nie ein Problem und sie sieht sich als Brücke zwischen den Flüchtlingen und den Kanadiern, übersetzt die Sprache, versucht aber auch, den beiden Gruppen die jeweils andere Kultur verständlich zu machen.

«Leute, denen wir begegnen, sehen oft nicht, dass wir ein Leben hatten, bevor wir Flüchtlinge wurden und Flüchtling zu sein macht mich nicht zu einer anderen Person. Obwohl ich viel mit Gott gerungen habe, muss ich doch sagen, Gott hat in meinem Leben Asche in Schönheit verwandelt und wir haben als Familie immer seine Treue erleben dürfen. Nun warte ich noch darauf, dass er mir den Platz zeigt, wo er mich haben will.»

Gedanken der Autorin

Im Jahr 2016 verbrachte ich ein paar Wochen in Griechenland und besuchte mit einem Team Flüchtlinge in den Camps. Der Gedanke, der mir damals immer wieder durch den Kopf ging, war: Die haben früher ja ein Leben gelebt, wie ich es tue. Sie haben gearbeitet, Feste gefeiert, Kinder erzogen und sich am Leben gefreut. Sara und ich hatten uns schon einmal getroffen, lange bevor der Krieg begann. Wir arbeiteten mit derselben Mission, und sie war an einer Schulung dabei, wo ich unterrichtete.

Damals hätte niemand gedacht, dass wir uns Jahre später in der Schweiz treffen würden, Sara nun als Schul-Mitarbeiterin und ich wieder am Unterrichten. Mit einem Unterschied – Sara ist nun Flüchtling, ich habe immer noch ein sicheres Zuhause. So wie Sara hänge auch ich an den kleinen Dingen, die sich bei mir angesammelt haben und schon oft habe ich mir überlegt: Wenn ich plötzlich wegmüsste, was würde ich mitnehmen wollen und können? Saras Geschichte hat mich wieder zum Nachdenken gebracht. Auch ich frage mich manchmal: «Warum? Warum geht es uns so gut?» Aber auch: «Was heisst das für uns als Christen, haben wir hier eine Verantwortung?»

Alle Informationen und Materialien zum Flüchtlingssonntag der Schweizerischen Evangelischen Allianz sind online verfügbar.

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Datum: 17.06.2023
Autor: Barbara Rüegger
Quelle: Livenet

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